Nehmen wir die aktuelle Debatte um die AHV. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat gerade die nächste Reformrunde angestossen – und der Entscheidungsbedarf ist enorm. Seit 2006 gab es 13 Volksabstimmungen zur AHV. In der Parlamentsdatenbank «Curia Vista» finden sich 2163 Vorstösse (Motionen, Postulate etc.) unter dem Stichwort «AHV». Kurzum: Die Altersvorsorge beschäftigt die Politik – fast täglich.
Und wo entschieden wird, braucht es Zahlen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) stellt dafür ein ganzes Sammelsurium an Daten, Analysen – und sogar Erklärungen in leichter Sprache – zur Verfügung. Doch die offiziellen Projektionen des Bundes sind immer wieder Gegenstand hitziger Kontroversen. Kein Wunder: Bei einem System mit einem jährlichen Volumen von rund 40 bis 50 Milliarden Franken und einem Horizont von mehreren Jahrzehnten wirken sich kleine Änderungen in den Annahmen massiv aus.
Wie gut sind Prognosen eigentlich?
Kurzfristig: erstaunlich gut. Die Abweichungen beim Umlageresultat lagen meist bei ±1 bis 2 Milliarden Franken – angesichts der Gesamtgrösse überschaubar. Das überrascht nicht: Beitragseinnahmen und Rentenausgaben lassen sich relativ stabil prognostizieren. Jeder und jede wird jedes Jahr ein Jahr älter.
Mittelfristig wird es komplexer – wegen Lohnwachstum, Zinsen, Migration. Und langfristig? Da wird es sehr unsicher: Lebenserwartung, Erwerbsquote, Produktivität – all das beeinflusst die Finanzierungsperspektiven.
Prognosen: nützlich oder Kaffeesatzlesen?
Kritiker sagen: «Prognosen von Ökonomen sind wertlos.» Und ja – niemand kann die Zukunft exakt vorhersagen. Kein Modell der Welt konnte Trump, Corona oder Negativzinsen antizipieren. Politische Rahmenbedingungen ändern sich – und mit ihnen auch die Realität, in der Prognosen wirken (oder eben nicht).
Und trotzdem: Ohne Prognosen geht es nicht. Sie liefern rationale Entscheidungsgrundlagen – wenn auch keine absoluten Wahrheiten. Wichtig ist, ihre Limiten zu kennen. Wer sie kennt, kann systematisch Szenarien analysieren, vergleichen und besser entscheiden.
Ökonomie: zwischen Ohnmacht und Macht
Worum es wirklich geht, ist nicht nur die Prognose. Sondern das ökonomische Denken. Es hilft, komplexe Fragen zu strukturieren – wie ein Werkzeugkasten. Manche Werkzeuge sind simpel (Stichwort: Homo oeconomicus), andere hochkomplex: Unser Hauptmodell bei BAK Economics etwa umfasst über 1000 Gleichungen. Dazu kommen Satellitenmodelle für vertiefte Analysen.
Doch diese Modelle wirken vor allem in Expertendiskussionen. Ihr Resultat ist eine Zahl – nützlich, aber nur im Kontext ihrer Annahmen interpretierbar. An diesem Punkt wird der Elfenbeinturm sichtbar.
Und trotzdem: Die wahre Stärke der Ökonomie liegt oft im Einfachen. In der Fähigkeit, eine Landkarte zu zeichnen, die Orientierung bietet – ohne jeden Hügel im Detail abzubilden.
Das AHV-System in wenigen Zahlen
Hier mein Beitrag zur aktuellen AHV-Diskussion – mit sechs einfachen Zahlen anhand des Jahrs 2023:
- Ein durchschnittlicher Erwerbstätiger zahlt rund 7’000 CHF in die AHV ein.
- Eine durchschnittliche Rentnerin erhält pro Jahr rund 18’000 CHF.
- Das ergibt ein Defizit von 11’000 CHF pro Person und Jahr.
- Bei einer Einzahlungsdauer von 46 Jahren zahlen Herr und Frau Schweizer im Leben durchschnittlich rund 328’000 CHF in die AHV ein.
- Bei einer Bezugsdauer von 21.5 Jahre (Lebenserwartung mit 65) erhalten Herr und Frau Schweizer durchschnittlich rund 379’000 CHF AHV-Rente.
- Defizit für jede einzelne und jeden einzelnen von uns im Durchschnitt im Leben: 51’000 CHF.
Das ist der Kern der Debatte: Wer finanziert dieses Defizit?
Es geht nicht primär um Demografie, Migration oder Zinsen. Diese Faktoren ändern den Betrag des Gesamtdefizits – aber nicht die Tatsache, dass wir im Durchschnitt mehr erhalten als dass wir einzahlen. Oder kurz: Ein defizitäres System bleibt defizitär – egal wie viele Alte es gibt, wie hoch die Zinsen sind oder wie viele Junge zuwandern. Migration kann das Volumen verändern, nicht das Grundproblem. Zinsen verändern die Finanzierungskosten – nicht das Defizit selbst.
Nur Stellschrauben wie Beitragshöhe, Rentenhöhe und Renteneintrittsalter haben direkte Effekte auf das Defizit. Demgegenüber finanzieren alternative Finanzierungsquellen wie höhere Bundesbeiträge oder Mehrwertssteuerprozente dieses einfach unterschiedlich.
Die eigentliche Frage an die Politik – und damit an uns Stimmberechtigte – lautet:
Wollen wir das Leben im Alter subventionieren?
Und wenn ja – in welchem Umfang?