Die Vorstellung, dass etwas weniger als nichts wert sein kann, hat Menschen schon immer irritiert.
In der Antike lehnten Mathematiker wie Euklid und Diophantos negative Zahlen ab – für sie war eine Zahl die Beschreibung einer Menge von Dingen. Und eine «negative Menge» war schlicht unvorstellbar.
Im europäischen Mittelalter galten negative Lösungen von Gleichungen als «absurd» – man konnte sie zwar formell berechnen, akzeptierte sie aber nicht als reale Resultate.
Erst im 17. und 18. Jahrhundert – mit der Einführung der Zahlengerade, der Koordinatensysteme und der Temperaturmessung – begann man, negative Werte als sinnvolle Grössen zu begreifen.
Einen entscheidenden Beitrag dazu leistete der Basler Mathematiker Leonhard Euler: Durch die konsequente Anwendung negativer Zahlen in seinen Werken festigte er ihren Platz in der Mathematik und prägte das moderne mathematische Verständnis nachhaltig. Heute sind negative Zahlen selbstverständlich, jeder Primarschüler rechnet damit.
In der Ökonomie stehen wir vor einer ganz ähnlichen Entwicklung.
Negativzinsen wirken auf viele – auch mich – nach wie vor paradox. Doch wie bei den negativen Zahlen liegt das Problem weniger in der Logik als in unserer normativen Vorstellung.
Zugegeben, auch ich hatte Mühe, sie zu verstehen und zu akzeptieren. Es erscheint nicht logisch, dass man dafür bezahlt, Geld zu verleihen. Doch letztlich geht es um ein Gleichgewichtspreis zwischen Angebot und Nachfrage. Das klingt komisch, ist aber in gewissen Zeiten Realität. Und insbesondere die Geldpolitik kann sich der Realität nicht entziehen.
Negativzinsen in der Geldpolitik: Sie funktionieren
Die Schweizerische Nationalbank (SNB) ist in ihrer Kommunikation hierzu zwar auffallend vorsichtig. Aussagen wie «Niemand mag Negativzinsen» zeigen: Auch die Währungshüter sind sich der politischen und psychologischen Sensibilität bewusst. Doch Fakt ist, dass die Negativzinsen in der Geldpolitik funktionieren.
Die SNB hielt ihren Leitzins über beinahe 100 Monate unter null – ohne dass der Bargeldumlauf explodierte oder das Finanzsystem aus den Fugen geriet.
Aus geldpolitischer Sicht gilt offenbar:
Negativzinsen sind normale Zinsen – nur eben mit negativem Vorzeichen.
Sie wirken, solange sie glaubwürdig und zeitkonsistent eingesetzt werden. Natürlich haben sie Nebenwirkungen – aber das gilt für alle geldpolitischen Instrumente.
Die Frage der Verteilung gehört nicht zur Aufgabe der Zentralbanken, sondern ins fiskalpolitische Terrain.
Die Rückkehr der Negativzinsen?
Negativzinsen könnten bald wieder Realität werden. Der Grund dafür ist die von Donald Trump entfachte «Zollwut», die deutliche (Neben)wirkungen auf die Schweiz hat:
• Sinkende Rohstoffpreise, da der globale Handel gebremst wird
• Aufwertung des Schweizer Frankens, während der Dollar an Stärke verliert
• Überkapazitäten auf der Angebotsseite – insbesondere aus China, Europa, aber auch aus der Schweiz selbst
Das Resultat: Sinkende Importpreise, eine abnehmende Teuerung – und wachsender Druck auf die SNB, geldpolitisch zu reagieren. Auch mit Negativzinsen.
Konkret: Die meisten unserer Simulation weisen derzeit auf negative Zinsen hin, wenn die «Zollwut» andauert. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür?
Szenarien statt Prognosen – weil Trump unberechenbar sein will
Aktuell ist es klüger, in Szenarien zu denken statt in Prognosen. Denn zwei grosse Unbekannte bleiben:
- Bleiben die Zölle bestehen? – Nicht einmal Trump dürfte das mit Sicherheit wissen.
- Wie schätzen Marktteilnehmer die Lage ein? – Denn in der Geldpolitik zählt nicht nur, was geschieht, sondern auch, was erwartet wird.
Die Finanzmärkte sind ein guter Fiebermesser. Aktuell lautet das dominante Narrativ: «Die Zölle bleiben zumindest nicht in der ursprünglich angedrohten Höhe.» Doch wie die jüngsten Marktschwankungen zeigen, kann sich dieses Narrativ sehr schnell drehen.
Mein Vorgehen: Trump lässt sich nicht prognostizieren – die Disruption ist Teil seines Denkens. Was aber getan werden kann, ist: die Nebenbedingungen einordnen.
Zwei Faktoren dürften dabei sein Handeln beeinflussen:
1. Der US-Staat braucht Kredit – höhere Zinsen sind kontraproduktiv
Trump hat Steuersenkungen versprochen, doch die fiskalische Realität holt ihn ein.
Der eben veröffentlichte US-Haushalt für das erste Halbjahr (Beginn September) zeigt ein massives Defizit:
• Steuereinnahmen: 2,3 Billionen Dollar
• Ausgaben: 3,6 Billionen Dollar
• Defizit: 1,3 Billionen Dollar
• Davon rund 600 Milliarden Dollar für Zinszahlungen – das entspricht über einem Viertel aller Staatseinnahmen
Ein ausgeglichener Haushalt würde entweder 57 % höhere Steuern oder 36 % weniger Ausgaben erfordern – beides politisch kaum durchsetzbar, ohne eine Rezession zu riskieren.
Zölle, die Importe verteuern und das inländische Preisniveau anheizen, passen nicht zur finanzpolitischen Realität der USA.
2. Der US-Bondmarkt ist mächtig – und hat keine Beisshemmung
Der ehemalige Clinton-Berater James Carville brachte es einst auf den Punkt:
«Früher dachte ich, wenn es Wiedergeburt gibt, wollte ich als Präsident, Papst oder ein .400-Baseball-Schlagmann zurückkommen. Aber jetzt würde ich als US-Anleihemarkt zurückkommen wollen. Damit kann man jeden einschüchtern.»
Diese Aussage ist heute aktueller denn je.
Die Macht der Bondmärkte liegt nicht nur in ihrem Volumen – sondern in ihrer Fähigkeit, den geld- und fiskalpolitischen Handlungsspielraum ganzer Staaten zu definieren:
- Tägliches Handelsvolumen von US-Staatsanleihen: ca. 900 Mrd. Franken
- Gesamtes ausstehendes Volumen: rund 27’000 Mrd. Franken
- Anteil der USA am globalen Anleihenmarkt: etwa 50 %
Trump – der neue Truss?
Eine provokante, aber berechtigte Frage: Wird Trump der neue Truss?
Die kurze Amtszeit der britischen Premierministerin Liz Truss endete nicht wegen parteiinterner Querelen, sondern weil die Bondmärkte ihr den Geldhahn zudrehten. Ihre Steuerpläne liessen die Renditen britischer Anleihen explodieren und das Pfund abstürzen. Innerhalb weniger Wochen war sie politisch erledigt.
Ob Trump die Märkte von der Nützlichkeit seiner Zollpolitik überzeugen kann, bleibt abzuwarten.
Klar ist: Wer sich mit dem globalen Anleihemarkt anlegt, braucht mehr als politische Schlagkraft – er braucht Glaubwürdigkeit.
Für die Schweiz heisst das: Trump hat einen «Chef» – den Bondmarkt. Dieser diktiert, welches Versprechen (Zölle oder tiefere Steuern) Trump tatsächlich umsetzen darf. Das Trump nicht allmächtig ist, ist beruhigend. Doch eines bleibt sicher: Die Unsicherheit macht sichere Häfen wie die Schweiz attraktiv – mit allen Nebenwirkungen wie potenziell wiederkehrenden Negativzinsen.
Fazit: Wer auf Negativzinsen vorbereitet ist, hat einen Vorteil
Die Vorstellung, dass Zinsen unter null fallen, mag kontraintuitiv wirken – so wie negative Zahlen einst als «absurd» galten. Doch sie sind heute geldpolitische Realität.
Wer sie nicht nur hinnimmt, sondern versteht, verschafft sich einen Vorteil – als Investor, Unternehmerin oder Entscheidungsträger.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir sie mögen – sondern ob wir darauf vorbereitet sind.