Eidgenössische Wachstumsmüdigkeit

Der Schweiz geht es gut. Aber die Müdigkeit scheint zuzunehmen.

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Die Schweiz gehört zweifellos zu den reichsten Ländern der Welt. Sowohl das Vermögen als auch die Einkommen der privaten Haushalte befinden sich im globalen Spitzenfeld. Doch hinter dieser glänzenden Fassade treten erste Zeichen einer Wachstumsermüdung zu Tage. 

Der Wohlstand der Schweiz fusst auf vielfältigen Ursachen: Historisch betrachtet waren die geografische Position mit den Alpenpässen und Flüssen wie Rhein und Rhone für den europäischen Handel, der Protestantismus inklusive der Zuwanderung der Hugenotten, die frühe industrielle Revolution mit Schwerpunkten in der Textil- und Uhrenindustrie sowie das stabile und neutrale politische System ausschlaggebend.

In der jüngeren Vergangenheit sind gute aussenwirtschaftliche Beziehungen, eine liberale Wirtschaftspolitik oder das Steuersystem als zentrale Rahmenbedingungen für das Schweizer Wirtschaftswachstum zu nennen. Attraktive Unternehmenssteuersätze lockten multinationale Firmen an, gefolgt von tausenden Fachkräften, was den finanziellen Spielraum der öffentlichen Hand vergrösserte. Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen und die Schuldenbremse sorgten für einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen Mitteln, was zu einer im internationalen Vergleich sehr niedrigen Verschuldung führte.

Den zunehmenden Reichtum hat die Schweiz stets vorausschauend investiert, bspw. in die Verkehrsinfrastruktur oder in den Aufbau eines hochstehenden Bildungssystems. Die Standortattraktivität konnte so weiter gesteigert und breit abgestützt werden. Ein erheblicher Teil öffentlicher Mittel fliesst in den Konsum, zum Beispiel in das weltweit teure, aber leistungsfähige Gesundheitssystem, soziale Sicherheit und Bildung.

Niemand möchte auf diese Errungenschaften verzichten, und deshalb wird es aber auch in Zukunft Wirtschaftswachstum brauchen, um das gewohnte Niveau an staatlicher Infrastruktur, sozialer Sicherheit oder Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten. Doch in der jüngeren Vergangenheit mehren sich die Anzeichen, dass das Wachstumsmodell ins Stocken geraten könnte. Zwar schneidet die Schweiz in Bezug auf das BIP-pro-Kopf-Wachstum im internationalen Vergleich noch recht gut ab, doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Teile der Wirtschaft nur schwach entwickeln.

Zwischen 2012 und 2022 stieg die reale Wirtschaftsleistung pro Einwohner nur noch um 0.9 Prozent pro Jahr. Damit liegt man im Mittelfeld der grossen Industrie- und Schwellenländer. Eine Zerlegung nach den Beiträgen verschiedener Branchen zeigt jedoch, dass das Wachstum in der Schweiz eng begrenzt ist. Rechnet man den Beitrag der Pharmaindustrie heraus, bleibt vom Wirtschaftswachstum pro Einwohner kaum noch etwas übrig (0.3% p.a.). Im Ländervergleich schneidet dann nur noch Brasilien schlechter ab als die Schweiz.   

Quellen: OECD, BAK Economics

Angesichts der schwachen Dynamik könnte man fragen: «Ist die Schweizer Wirtschaft wachstumsmüde?» Die Daten deuten darauf hin, und in diesem Blog werden wir der Frage nachgehen, welche Gründe dafür ursächlich sind. Untersuchen werden wir dabei unter anderem branchenspezifische Regulierungen, zunehmende Bürokratiekosten, Fachkräftemangel, (zu niedrige) Innovationsaktivitäten, Digitalisierung, Kosten der Technologieadaption oder die fehlende Diffusion des technologischen Fortschritts in die KMU-Wirtschaft. 

Auch Teile der Bevölkerung zeigen sich wachstumsmüde und sprechen sich aus ökologischen Gründen oder aus Abneigung gegen Einwanderung gegen weiteres Wachstum aus. Gefragt ist ein neues Verständnis von Wachstum, das auf «Nachhaltigkeit» und «Inklusion» fokussiert. Auch diesen Begriffen werden wir uns widmen, denn eines ist klar: Wenn wir den «Wohlstand» der Schweiz im Blick haben, geht es nicht nur um wirtschaftliches Wachstum und materiellen Reichtum. 

In unserem Blog wollen wir die «Wachstumsmüdigkeit» der Schweiz beleuchten, ihre Ursachen ergründen und mögliche Lösungen diskutieren. Ziel ist es, einen konstruktiven Dialog anzustossen, der zu tragfähigen Konzepten für die Zukunft des Landes führt.

Im zweiten Teil unserer Reihe widmen wir uns dem «Growth Accounting» – einer Methode zur Analyse der Wachstumsschwäche.

 

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